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Reconnaissance
Interview
Mag
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DJ
Hell
Deejay-Legende, Schallplattenunterhalter, Mann von Welt mit eigenem
Parfüm
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"Ich
will meine Zukunft zurück" |
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Über Deejaykult,
Italo-Pop, Snowdon, Westbam und Zukunft
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Er
gehört zu den letzten Granden einer Ära, die als Techno zumindest
bei Großereignissen seit Jahren eher an Disneyland erinnern als
an Nachtkultur. DJ Hell (bürgerlich Helmut Josef Geier; Jahrgang
1962, Altenmarkt an der Alz) hat wohl in allen Lokationen dieses
Planeten, die im Nachtleben etwas taugen, seine Musik und seinen
Sound präsentiert. Die großen Jahre der Techno-Jahre verbrachte
er an vorderster Front. Aber die Dinge des Techno haben sich in
der zurückliegenden Dekade verschoben und normalisiert, viele Personen,
die für überlebensgroße Personen hinter dem Mixpult verstanden haben,
scheinen sich in Luft aufgelöst haben. DJ Hell dagegen scheint moderner
denn je, und seine Bookings lesen sich wie ein internationaler Reisebericht.
Am
10. Juni gab sich Hell die Ehre, in der Chemnitzer Spinnerei aufzulegen.
Einen Tag vor seinem Auftritt lässt er ohne Umstände und Geplänkel
zum Interview zusagen. Und eines zeigt sich sofort: DJ Hell ist
sympathisch, höflich und normal, hier in der Bar des Hotels an der
Oper in Chemnitz erinnert er eher an einen Handlungsreisenden als
an einen Fürsten der Nacht. Ein kleiner Beleg für diese Beobachtung:
Anderthalb Stunden später beim Begleichen der Rechnung für einen
Cappuccino und ein alkoholfreies Bier fragt der Bartender, mit wem
denn das Interview geführt worden sei. Als er die Antwort vernimmt,
flippt der junge Kollege hörbar aus: "Das war DJ Hell? DJ Hell an
meiner Bar? Warum hat mir das keiner gesagt?"
Nicht
viel später wird Hell dann ans Pult der Spinnerei treten, ein Sommerclub,
wo Chemnitz wirklich cool und das Publikum nicht auf Zwischenfälle
aus ist, sondern gemeinsam besondere Shows genießt. Und nach ein
paar Minuten Liveaktion ist klar, dass DJ Hell eine gute, sichere,
perfekte Buchung ist. Man tanzt, kommuniziert, trinkt und gleitet
so allmählich weit weg.
In
der 90ern setzte ein Deejay-Kult ein, der alles übertraf, was vorher
in dieser Sache bekannt war. Keiner erinnert sich mehr daran, wozu
das ganze Theater gut war. Oder sieht man das als Betroffener etwas
anders?
Das
war eigentlich später, denn in den 90ern schien das noch überschaubar.
Früher war ein Deejay ja jemand, der in einem Nachtclub ein festes
Engagement hatte und da das ganze Jahr aufgelegt hat. Deejays sind
am Anfang nicht gereist, die hatten ihren festen Arbeitsplatz. Du
warst Resident Deejay und du standest für einen spezifischen, ortsgebundenen
Sound. Später, vielleicht so ab 1995, gab es dann plötzlich professionelle
Booking-Agenturen mit Reiseplanung und Artist-Management.
Wann
hatten Sie Ihren ersten Manager?
Ich
hatte nie einen Manager, weil ich schnell gelernt habe, mein eigener
Berater zu sein. Seit Mitte der 90er war ich dann Manager und Förderer
für Künstler, die ich entdeckt habe. Nur lief das für mich nicht
unter dem Titel "Manager", sondern ich habe meine Erfahrungen weitergegeben
und Talente gefördert.
Aber
dieser Deejay-Kult hat ja existiert und existiert noch?
Im
Augenblick geht es ja darum, wer im Privatjet fliegen darf und wer
die Linienflüge buchen muss, das ist so eine Abgrenzungsgeschichte
mit Statussymbolen. Bei Linie hast du eben deine festen Abflugzeiten
und im Privatjet geht es los, wenn die Starterlaubnis vorliegt.
Und dann gibt es noch diese Kategorie wie Calvin Harris oder ein
David Guetta, der keinen Privatjet mehr nimmt, sondern eine Boeing
747, auf der sein Name steht. Aber er soll ja bis zu 30 Millionen
Euro im Jahr verdienen.
Also
gibt es diesen Kult doch auf eine bestimmte Weise.
Ja.
Was ist heute ein Traumberuf von jungen Leuten? Die wollten früher
Fußballprofi oder wahlweise Model werden, aber jetzt lieber wollen
alle weltweit Deejay werden.
Nichts
macht schneller alt, als der immer vorschwebende Gedanke, dass man
älter wird, meinte Lichtenberg. Wann merkt ein erfolgreicher
Nachtarbeiter wie Sie, der sicher noch ewig gebucht werden wird,
dass er eigentlich zu alt für den Job ist?
Ich
glaube, dass es da vom Körperlichen Einschränkungen und deutliche
Zeichen gibt und sicher auch vom Geistigen und Spirituellen, dass
man der ganzen Belastung nicht mehr standhält. Oder es gibt die
Erscheinung, dass man musikalisch unverständlich wird. Ich spiele
normalerweise zwei bis drei Shows pro Woche. Letzte Woche hatte
ich aber fünf Shows in mehreren Städten und da hilft nur noch strenge
Disziplin, gute Ernährung, viel Schlaf wie ein Spitzensportler,
Sport und dass man drogen- und dopingfrei ist.
Wie bewerten Sie das Phänomen des Italo-Pop aus dieser Zeit, reale
Erscheinungen wie Den Harrow, Fun Fun oder Valerie Dore, bei denen
man - egal, wie man zu deren Musik steht - prinzipiell lauter dreht,
wenn sie im Autoradio laufen?
Nur
in der kürzeren Historie. Es gab noch Joachim Rother, der wohl 1966
eine Bronze-Medaille bei der Europameisterschaft holte und später
ein bekannter Trainer beim SC Karl-Marx-Stadt war. Der wäre locker
vor mir einzusortieren.
Die 80er haben Kultur, Kunst, Literatur und sicher auch die Popmusik
haben die westliche Gesellschaft stark beeinflusst - mit Auswirkungen
bis in die unmittelbare Gegenwart. Welche schönen Erinnerungen an
diese Zeit?
Ich
bin der Meinung - und nicht nur aus musikhistorischer Sicht, dass
in den 80ern viel definiert wurde, Musik-Stile, die damals erfunden
wurden, im Übrigen auch in der Literatur, Filmkultur und in der
Mode. Insgesamt eine sehr offene Zeit, in der viel möglich war,
heute sprechen die Leute vom 80er Phänomen. Es war in meiner
Entwicklung als Deejay und Produzent das prägende Jahrzehnt und
auch von vielen anderen Kreativen.
Dieses Phänomen ist mir nicht unbekannt - von beiden Seiten. Aber
wer dann das erste Mal bei einem Konzert der Pet Shop Boys
oder Spandau Ballet ist, findet das sehr schnell cool.
Ganz
klar: Spandau Ballet, eine hervorragende Band mit großartigen
Pop-Songs, und die Pet Shop Boys sind unbestritten eine der
erfolgreichsten Elektro-Pop-Gruppen aller Zeiten.
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DJ
Hell, Chemnitz, Hotel an der Oper, 2016. Foto: Kreißig |
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Die
Jugendkultur in Ost und West war sich in dieser Zeit durch Popmusik
und Videos viel näher als den Ideologen beider Seiten recht war.
Oder hat man das nur auf der Ostseite so empfunden?
Nein,
das war genau genommen auch im Westen so. Deutschland war für mich
immer Ost und West zusammen. Auf meiner Musik-Kompilation Coming
Home sind auch CITY, Nina Hagen oder Reinhard Mey dabei.
Im Westen wurde ich wegen dieser Zusammenstellung kritisiert. Die
Radiowellen sind natürlich auch von der anderen Seite rübergeschwappt,
und so habe ich auch in Westberlin gelegentlich DT gehört. Leider
gab es in der elektronischen Musik in der DDR wenig Bekanntes für
mich. Zur entscheidenden Situation wurde dann der Mauerfall, denn
das war der Startschuss für die deutsche Techno-Revolution, speziell
in Berlin. Das ist bis heute die Feiermetropole weltweit, es gibt
nichts Vergleichbares.
Bei genauerer Betrachtung ist Schönheit nie ein Trost, meint
der japanische Autor Mishima. Stimmt oder nicht?
Würde
ich nicht unterstellen. Schönheit kann in jeder Lebenslage ein Trost
sein oder auch einen schönen Anblick ergeben. Also lieber Schönheit.
Sie machen einen Gig in Südostasien und wollen hinterher noch drei
Tage in der Gegend ausspannen. Wo geht es hin?
Ehrlich
gesagt bin ich ja als Deejay ein Vielzuvielreisender. Wenn ich in
Asien einen Gig spiele, dann sehe ich meistens, was die Hotels für
ein Programm haben und dann reise ich nicht weiter, sondern bleibe
drei Tage in dem Hotel und lasse mich da verwöhnen, gehe ins Museum
oder besuche befreundete Künstler.
Sie kommen aus Bayern und müssen sich da auskennen: Lieblingssatz
aus der Bibel?
Ich
habe vor kurzem erst die zehn Gebote noch mal aufgeblättert; ich
wusste nur noch vier… Also: Achte deinen Nächsten.
Edward Snowdon, der unter Lebensgefahr die Karten auf der Welt der
Geheimdienste auf den Tisch gelegt hat, durfte vor wenigen Tagen
aus Deutschland hören, dass er womöglich ein russischer Spion sei.
Ihre Meinung bitte zu seinem Lebenswerk?
Jetzt
weiß jeder, was ein Whistleblower ist und was Snowdon aufgedeckt
hat, unterstütze ich in jeder Form. Der Verfassungsschutzchef verbreitet
hier dubiose Ansichten und Meinungen.
Lenin und Mao wollten, dass alle Menschen gleich denken, aus künstlerischer
Sicht auch Brecht und in gewisser Weise auch Warhol. Doch heutzutage
wollen das sogar Regierungen in westlichen Demokratien, dass alle
Bürger gleich denken. Wie konnte es dazu kommen?
Ja,
das ist sehr bedenklich. Solche Intentionen gehen auf Reflexionen
von George Orwell zurück, die er in 1984 beschrieb und das
natürlich nicht wollte. Doch ehrlich gesagt: Ich habe es damals
schon geglaubt, dass es mal so kommen könnte.
Sie arbeiten schon eine Ewigkeit in einer Branche, die für den Augenblick
lebt. Denkt man da noch über die Zukunft nach?
Wir
kamen aus einer neuen Ideologie, einer neuen Welt. Die Neue-Deutsche-Welle-Bewegung
gab Parolen vor und Bands wie Fehlfarben, Einstürzende
Neubauten, DAF oder Abwärts gaben "den Ton an".
Hier lautete das Motto No Future oder: "Mach kaputt, was
dich kaputt macht / Verschwende deine Jugend, so lange du noch kannst!"
Wir dachten alle damals, dass die wir eh keine Zukunft haben und
waren deshalb nicht gleichgeschalten. Man muss mitnehmen, was möglich
ist und keine Kompromisse machen; das haben wir lange gelebt. Aber
ich bin jetzt 53 und denke auf jeden Fall über meine Zukunft nach.
Meine neue Formel lautet: I want my future back. - Freunde
sagen oft, dass man sich so verändert hat in den Jahren. Dann antworte
ich: Hoffentlich bin ich nicht der Idiot, der ich damals war. Natürlich
denke ich darüber nach, was die nächsten fünf, zehn oder zwanzig
Jahre bringen. Wie lange kann ich noch Deejay sein? Wie lange kann
ich das noch glaubwürdig verkörpern? Das meine große, neue Herausforderung,
dass ich auch im hohen Alter noch verständlich bleibe, dass ich
cutting-edge bleibe und nicht Mainstream. Sich immer wieder neu
erfinden, ist die einzige Möglichkeit weiter künstlerisch tätig
zu sein.
Ihr Kollege Westbam hat die Aufgabe seiner Auftritte mal damit umrissen,
"die Leute ein paar Stunden aus ihrem selbstverschuldeten Stumpfsinn"
zu erretten. Was ist die Aufgabe von DJ Hell, wenn er heute Nacht
seine Schicht antritt?
Das Zitat kenne ich nicht. Ich schätze Westbam über alles. Aus unserem
Umkreis ist er sicher derjenige, der am weitesten vorgedacht hat,
der wirklich auch wegweisende Ideen und Slogans hatte. Er war ein
Vordenker und Philosoph: Ohne Westbam wäre in der deutschen Techno-Szene
vieles anders gelaufen. Ich vermute, dass diese Aussage mit dem
"selbstverschuldeten Stumpfsinn" eher leicht provokativ ausgelegt
war. Er hat zum Beispiel auch gesagt, dass das Deejay-Leben komplett
asozial ist: Wir schlafen tagsüber, arbeiten nachts, gehen nicht
in den Supermarkt, wissen gar nicht mehr, was da zu welchen Preisen
angeboten wird, du lebst zeitweise in einer völligen Traumwelt,
um dich herum sind ständig Leute, die alles Mögliche in deinem Leben
organisieren, du selbst bist immer nur auf der Party oder Studio
oder auf dem Weg dahin. Er hat das vielleicht etwas flapsig formuliert.
Aber den ersten Teil würde ich stehen lassen: Dass man den Leuten
ein Gefühl gibt, für ein paar Stunden alles auszublenden. Das ist
wirklich okay, das kann auch wahnsinnig euphorische Momente ergeben,
das kann mich selber weiter inspirieren. Es gibt sogar Leute, die
mir erzählt haben, dass sie sich auf meiner Party kennengelernt
und später geheiratet haben oder Menschen, die durch meine Musik
ihr Leben änderten. Für mich ist jede neue Party gleich wichtig,
egal, ob ich heute in Chemnitz spiele oder letzte Woche in Kopenhagen,
dann in Lille, London und dann wieder Berlin. Der Ort ist zweitrangig,
im Vordergrund stehen für mich die gleiche Herangehensweise und
die gleiche Motivation. Anders wäre es für mich auch nicht interessant.
Zu sagen, ich bin jetzt hier in einer kleineren Stadt als London
oder Berlin und da gebe ich nur 50 Prozent, wäre auch nicht seriös.
Die Leute auf den Partys haben eine bestimmte Erwartungshaltung,
und ich muss sehen, wie sie reagieren, Schwingungen aufnehmen und
alle Gegebenheiten genau analysieren, um ein perfektes Set zu liefern.
Wer eine Kunst verstanden hat, verfügt meistens noch über die Fähigkeit
für eine zweite. Welche ist das bei Ihnen, von der wir noch nichts
wissen?
Zurzeit schreibe ich sehr viele Texte für mein neues Album. Das
habe ich noch nie vorher gemacht. Ich schreibe viele Balladen und
Liebeslieder im Moment. Aber ich singe nicht selbst. Dafür gibt
es Profis und Sänger aus anderen Epochen, die dafür ins Studio geladen
werden.
Glamour ist das Land, in das die meisten Menschen nie einreisen
können und dennoch versuchen es so viele. Was ist für Sie Glamour?
Über all die Jahre ist Glamour für mich einfach Aufmerksamkeit,
Zurückhaltung, Respekt gegenüber anderen und Bescheidenheit geworden.
Sie kommen aus der Chiemsee-Gegend, ein wunderbarer Landstrich.
Dort, genau in Traunreut, findet man auch das Maximum vom Galeristen
und Sammler Heiner Friedrich. Schon mal dort gewesen?
Total
überraschend. Ich war da vor ein paar Jahren, Andy Warhol und das
mitten im Niemandsland. Ist mir auch fast unerklärlich, eine Sammlung
auf so internationalem Level. Ich war da an einem Nachmittag fast
alleine im Museum. Wirklich beeindruckend.
Für jemanden, der in seinem Beruf permanent weltweit unterwegs ist,
dürfte Heimat eine besondere Bedeutung haben. Was ist Heimat für
Hell?
Überlege
ich auch immer. Heimat ist natürlich dort, wo man herkommt. Ich
könnte auch Berlin sagen, weil ich da 15 Jahre gelebt habe. Ich
kann mich da schnell anpassen. Aber ich hätte Heimat auch zu New
York sagen können, als ich zweimal länger dort gelebt habe. In Manhattan
haben mich Touristen nach dem Weg gefragt, und ich konnte ihnen
weiterhelfen.
In der zeitgenössischen Kunst gibt es den inzwischen sehr gedehnten
Begriff der Konzeptkunst. Passt der in gewisser Weise auch zu Ihrer
Musik?
Mit
Teufelswerk hatte ich ein Konzeptalbum. Das neue Album dagegen
entspricht nicht einem strengen Entwurf. Aber es ist für mich ein
neuer möglicher Weg. Ich wollte mich nicht musikalisch wiederholen,
sondern neue Wege beschreiten. Ich bin seit 35 Jahren Deejay und
seit 25 Jahren Produzent. Da muss man schon wirklich tief eintauchen,
um etwas völlig neues zu entwerfen und nicht auf Vertrautes zurückgreifen.
Fragen des Sinns, früher ein elementarer Bestandteil der Religionen,
sind ja in der Welt des Westens ja überlagert worden von Ruhmsucht
oder der Jagd nach Geld. Sie sind ständig in der Welt des Glamours
unterwegs, so im Juli auf Ibiza im Luxuspartyhotel Santos Ibiza
Coast Suites, wo ein paar Kilometer östlich die Boote mit Migranten,
die hoffen, ein neues Leben zu finden, vorbeifahren. Können da Fragen
des Sinns überhaupt eine Rolle für Sie spielen?
Ja,
jeder stellt sich die Frage nach dem Sinnvollem und dem Sein. Und
gerade beim Thema Ibiza Wonderland - hier wird seit Mai gefeiert
bis Oktober und das muss man sich schon mal reinziehen, um ein klares
Gesamtbild zu bekommen - steht schon die Frage im Raum , ob es im
Moment angebracht ist, da durchzufeiern, ohne zu reflektieren und
alles zu ignorieren. - Es ist nicht der Moment dafür, finde ich,
aber es werden bis zu acht Millionen Besucher im Sommer 2016 auf
der Insel erwartet Gerade die gesamte EU-History ist an einem kritischen
Punkt angelangt, wo keiner weiß, wie die nahe Zukunft bringt. England
geht raus aus der EU und was passiert mit Griechenland und der Türkei?
Aber die Distanz zur EU und zu ihrer Politik gibt es nach meinem
Eindruck in immer größeren Teilen der Bevölkerung, in Ost- wie in
Westeuropa. Und immer mehr Menschen finden es nicht mehr in Ordnung,
dass wichtige Fragen genau gegenteilig zu ihrer Auffassungen entschieden
werden, teilweise ohne demokratische Entscheidungswege wie bei TTIP.
Man speist die Menschen mit Statistiken und Behauptungen ab, die
die Entscheidungen und darauf folgenden Handlungen von Berlin oder
Brüssel untermauern sollen. Das ist auf Dauer kein gültiges und
erfolgversprechendes Konzept.
Worin besteht die Exklusivität der Form der Kultur, der Sie nachgehen?
Techno
ist mein Leben. (DJ Hell)
Ich werde im Sattel sterben. (Rolf Bossi)
Es wird immer weiter gehen - Musik als Träger von Ideen (Ralf Hütter)
The Exhibitionist (Jeff Mills)
Mit Ihrer Plattenfirma Gigolo Records auch Geld verdient?
Es wurde zwischenzeitlich auch Geld verdient. Wir hatten viel Erfolg,
aber nach zwei Insolvenzen des Vertriebspartners innerhalb von fünf
Jahren ist es schwierig, ein Label am Leben zu halten. Die Platten
und CDs wurden verkauft, aber es kam kein Geld von den Verkäufen
zurück. Da haben wir echt die Luft angehalten. Aber wenn man mal
den Katalog ansieht, was da in 20 Jahren passiert ist - über 300
Veröffentlichungen - da stellt man schon fest, dass es wenig Vergleichbares
gibt. Im Moment ist Gigolo ein exklusives Kunstprojekt.
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DJ
Hell im Stil des frühen Bowie. Foto:
Daniel
Mayer (PR) |
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Der
Kapitalismus und in gewisser Weise auch die Politik scheinen ja
die Kontrolle über das Land verloren zu haben.
Ja
bestimmt.
Ein paar Details erinnern die Älteren an die Endzeiten der DDR
oder täusche man sich da?
Was
das betrifft, kann ich nicht mitreden… Aber die Leute haben eindeutig
das Gefühl, dass sie die Politik im Stich lässt, auch in vielen
alltäglichen Fragen wie Kinderbetreuung, Renten oder in der Altenpflege,
wo zum Teil untragbare Zustände vorherrschen. Ich denke, da lässt
die Regierung die Bürger und Familien schon lange mit ihren Ängsten
allein. Es scheint mir daher nicht wirklich überraschend, dass neue
Parteien einen solchen Zulauf gefunden haben. Im Moment ist eine
Situation entstanden, die so nicht vorhersehbar war.
In der Zeitschrift Intro hat man Sie mal zu einer Art Guru
erklärt. Doch dann verschwinden auch Sie plötzlich und man liest
Jahre nichts mehr über Sie. Welche Beziehung zur wankelmütigen Musikpresse
- national wie international?
Intro
gibt es noch?
Ich denke schon.
Jetzt
ist es schon so weit, dass man nicht mehr weiß, ob das Intro
überhaupt noch existiert… Intro war aber immer eine sehr breit aufgestellte
und durchaus auch eine differenziert angelegte Publikation, kostenlos.
Aber auch wankelmütig.
Ich
will mich da nicht überhöhen, aber dass man in der Presse in Deutschland
Leute, die zu populär sind, eher mit gemischten Gefühlen beobachtet,
ist keine neue Entdeckung. So meinte man am Anfang im Berghain,
wir wollen nicht mit dir kooperieren, weil du zu sehr in der Öffentlichkeit
stehst und Teil des öffentlichen Lebens bist, und das schneidet
sich mit unserer Philosophie.
Aber das ist doch sicher vorbei…
Inzwischen
habe ich die Panorama-Bar vom Berghain mehrmals bespielt.
Ich bin ja noch aus dem alten Berlin der 90er mit Auftritten im
E-Werk, Tresor, Planet, WMF und Elektro.
Meine Intention als Deejay war ja immer, dass ich neben den Clubs
eben auch zu Pariser Prêt-à-Porter-Shows von Donatella Versace oder
zu 50 Jahre Playboy in der Playboy-Mansion was zu sagen habe
und damit meine Musik einem neuen Publikum vorstelle. In der Playboy
Mansion in L. A. habe ich auch Italo-Disko aus den 80ern gern
aufgelegt, sozusagen die goldene Playboy-Zeit. Bei Donatello Versace
wurde dann harter Acid-House-Sound gemixt. Das war schon fast missionsartig.
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DJ
Hell. Foto: Daniel Mayer
(PR) |
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Jeder
Künstler war einmal neu - im Sinne von cool und durchgesetzt gleichermaßen.
Wann waren Sie neu?
1992.
Meine erste Platte My Definition of House Music. Für mich
neu war: Wie verhält sich das Publikum in Paris auf Szenepartys
in irgendwelchen Katakomben, in Chicago auf Warehouse Parties oder
in New York in einer umgebauten Kirche. Das war eine harte, aber
die beste Schule, nicht nur immer vor deinem Publikum zu bestehen,
sondern vor verschiedenen Nationalitäten. Das ist dann die hohe
Schule der Deejay-Art.
Die Menschen im reichen Westen wussten nichts mehr von der Sache,
dass umgesetzte politische Parolen und deren Folgen auch die eigene
Haut treffen können. Der Slowene Slavoj Žižek, der Startheoretiker
der radikalen Linken, sieht im Gespräch auf sueddeutsche.de
durch die Entwicklungen vom Spätsommer 2015 inzwischen "das Beste
und Wertvollste an Europa" bedroht: "Universalismus, Menschenrechte,
Solidarität, Aufklärung".
In
einem Titel meines neuen Album werden wir das textlich reflektieren:
Wir reiten durch die Nacht, greifen zu den Waffen und reißen
die Menschen aus dem Schlaf.
Ich erhoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei, schrieb Nikos
Kazantzákis, Autor von Alexis Sorbas und Die letzte Versuchung Christi.
Ist Hell frei?
Ich
war immer frei und werde immer frei sein.
Interview:
Uwe Kreißig
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