Es ist die Geschichte
eines Radprofis, wie es sie in den Radsportnationen Westeuropas
dutzendfach gab und dennoch hat sie ihre sehr persönliche Variation.
Nicht wenige der Zuschauer in der EMPORON-ARENA, zu der ein
großer Fahrradvertrieb in Chemnitz einlädt, wirken dennoch überrascht,
wie offen und illusionslos Udo Bölts mit der Vergangenheit umgeht,
als er sich am 16. November dieses Jahres auf dem Podium in der
Chemnitzer Markthalle den Fragen stellt.
An Bölts Nase
glänzt eine Delle, und er erklärt sich zu Beginn: ein Sonnenschaden,
der nun mit dem Laser behandelt sei, er habe sich nie richtig eingecremt.
Der Moderator des Abends braucht nicht lange, und Udo Bölts kommt
wieder in Fahrt. Er veranschaulicht das Leben des Radprofis, das
selbst auf der Tour de France trist sein konnte und manchmal glamourös.
Wer dann zum Abschluss der Tortur ein paar Ehrenrunden vor hunderttausenden
Zuschauern auf den Champs-Élysées fahren dürfe, werde für alles
entschädigt. „Du darfst hier fahren. Das genießt man“, erinnert
sich Bölts, und man kann es verstehen.
Es ist ein schöner
Abend, die Zuschauer sind offen eingestellt wie der ehemalige Star,
dessen Name noch nicht verblasst ist, weil er als uneigennütziger
Edelhelfer Jan Ullrichs in die Tour-Annalen einging. Eine ungleich
schwierigere Leistung von Bölts ist fast vergessen. Sein überraschender
9. Platz in der Tour de France 1994 macht ihn kurzzeitig zu einem
potenziellen „Leader“, einem Fahrer, der in Etappenfahrten auf Gesamtklassement
fahren kann. Er kniet sich in diese, ihm von anderen zugewiesene
Rolle in gewohnter Weise hinein und erkennt bald, dass er dafür
nicht geschaffen sei, wie er dem Auditorium berichtet. Der Druck
ist zu stark, die Ergebnisse bleiben aus. Udo Bölts steigt aus dieser
Rolle aus, und damit verliert sich auch das Medieninteresse an ihm;
es dürfte ihm recht gewesen sein. Edelhelfer wird fortan seine Rolle
bleiben, er macht sich nichts daraus. 1997 führt er Jan Ullrich
zum legendären Toursieg, und das vereinigte Deutschland stürzt in
einen kollektiven Radsporttaumel. Aber bald trüben sich die Verhältnisseim
Radsport ein, dem Festina-Skandal folgen viele weitere mit
einer einzigen Ursache.
Die Schleier
sind gelüftet: Was frühere optimierte Trainingspläne
und eine spezielle Ernährung waren, ist heute ganz einfach
Doping. Bölts offenbart in Chemnitz, dass er „die Tour“ mit und
ohne Dope gefahren ist. Das heißt dann wohl, dass man die übermenschlich
schwere Frankreich-Rundfahrt auch so überstehen kann. Und er bringt
lächelnd den in Fahrerkreisen inzwischen geflügelten Spruch „Ich
habe niemanden betrogen“, der in der Übersetzung heißt, dass alle
Radprofis dopen und folglich niemand den Kollegen betrügt.
Während Lance
Armstrong weiter mit allen juristischen Tricksereien behauptet,
der sauberste Fahrer im Feld gewesen zu sein und deshalb auch der
schnellste, haben sich viele Veteranen die schulterzuckende Eingeständnisvariante
zu eigen gemacht, meist aus den gleichen wie verständlichen Gründen.
Man wartet nur noch auf den möglichen Strafprozess gegen den Spanier
Eufemiano Fuentes, dem (ehemaligen) Gynäkologen mit den meisten
männlichen Patienten, wie die Medien eine Zeitlang gern kalauerten
und der eine Blutbank von unglaublichen Ausmaßen unterhalten haben
soll. Fuentes’ mögliche Servicedienste kosteten vermutlich Jan Ullrich
den Karrierekopf. Bölts lobt im Gespräch seinen früheren Kollegen
als sympathisches Jahrhunderttalent, der auch ohne Dope und nach
dem jährlichen Winterspeckdrama ein übermächtiger Fahrer gewesen
sei. Das ist lange vorbei: Beim diesjährigen Ötztaler Radmarathon
fährt der Ex-Toursieger Jan Ullrich als 182. ins Ziel.
Es existieren
zwei Aspekte zum Doping, deren Diskussion weitestgehend ausgeblendet
wird. Es ist die eine, nicht unberechtigte Frage, wie junge Fahrer
eine Chance im Wettkampf haben sollen, wenn sie sich vornehmen,
sauber zu bleiben. Und so stellt es keinen Zufall dar, dass gerade
volljährig gewordene Rennfahrer bereits erwischt worden sind. Und
es ist eine andere Frage, warum eine sehr kleine Gruppe von Apothekern,
Ärzten und Physiotherapeuten - die an moderne Dopingpräparate herankommen
- den Handel zu Schwarzmarktpreisen offenbar ungebremst am laufen
halten können. Insider geben eine einfache Antwort: Da geht es um
jede Menge Geld, dass man nebenbei einstecken kann. Der dänische
Toursieger Bjarne Riis räumte Jahre nach seinem Karriereende ein,
dass er bis zu 130.000 Euro für Dopingmittel ausgab.
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Die Zuschauer
wüssten doch, was gespielt werde, meint Udo Bölts zu diesen längst
amtsgerichtlich festgestellten Sachverhalten lapidar. Und im Grunde
hat er damit völlig recht. Man braucht nur die aktuelle Zeitung
aufzuschlagen: In einer Gesellschaft, in deren Großunternehmungen
Profiteure und deren Claqueure und Mätressen jede vorstellbare Betrugs-
und Bereicherungsmöglichkeit nutzen, bis der Krug irgendwann bricht,
erscheint es fast schon unanständig, mit den Moralfingern auf die
pharmakologischen Süchte der Profiradsportler zu zeigen.
Die Doping-Thematik
ist letztlich der rote Faden durch den Gesprächsabend, direkt oder
indirekt, woran auch der Moderator nicht völlig unbeteiligt ist,
was aber in gewisser Weise für ihn spricht. Bei so viel Dope ist
es dann kein Wunder, als Udo Bölts schließlich zur Bagatellisierung
übergeht. Er habe nie irgendwelche gesundheitliche Probleme gehabt
und hätte diese auch heute nicht. Das mag sein, aber die Vorgeschichte
und eine Vielzahl unklarer Todesfälle im Spitzensport der zurückliegenden
20 Jahre sind eine Tatsache. Allein bis Mitte der 90er Jahre geht
man von über 20 Todesfällen beim EPO-Doping aus, den „Eingeschlafenen“,
jene Sportler, die nachts an Herzstillstand starben, weil sie die
Medikamente, einst gedacht für Krebspatienten, völlig überdosiert
hatten.
Im vergangenen
Jahr erlag der zweifache Tour-de-France-Sieger Laurent Fignon einem
Krebsleiden. Er wolle auch nicht mehr ausschließen, dass seine Erkrankung
mit dem langjährigen Dopingmissbrauch in Verbindung stehe, äußerte
er resigniert. Wir waren jung und unbekümmert, der Titel von Fignons
Autobiographie sagt mehr über die Psychologie der Radsportbranche
wie dem Profisport als die meisten Erinnerungsbücher bekannter Athleten
mit ihren Banalitäten und Klischeewiederholungen aus. „Ich will
nicht mit 50 sterben“, meinte der krebskranke Fignon. Er starb 18
Tage nach seinem 50. Geburtstag. Aber das sind immer die Geschichten
der Anderen.
Eine Sportlerkarriere
ist zeitlich stark begrenzt, und wie sich oft gezeigt hat, beginnen
auch für die Erfolgreichen erst danach die harten Jahre. Udo Bölts
hat sich auch nach seiner Rennsportzeit eine gewisse Leichtigkeit
wie einen gewissen Ernst erhalten. Er ist froh, sein Geständnis
gemacht zu haben, und er war gern Radprofi. Diese Melange erweckt
Sympathie und hebt Bölts als populären Vertreter eines eisigen Individualistensports
heraus. Er führt ein normales Leben mit Familie, Arbeit und Urlaub.
Er ist Markenbotschafter für einen Radhersteller, pflegt einen Mountainbike-
Park bei seinem Wohnort und macht die Mallorca-Runden mit Amateurfahrern,
die einen Job haben und sich ein Trainingslager mit dem Ex-Profi
leisten. Ab und an gönne er sich eine offene Wettkampftour, erzählt
er entspannt.
Udo Bölts hat
seine Erinnerungen zurecht gerückt. Er scheint mit sich im Reinen.
Und er fährt weiterhin viel Rad.
Uwe Kreißig
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