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Reconnaissance
Interview Mag
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"Man
wird erst durch das Geld zu einem Menschen ohne Eigenschaften" |
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Peter Sloterdijk
im TIETZ in Chemnitz
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Montag, 19 Uhr
im dunklen November, Chemnitz an einem Tag wie jeder andere. Vor
der geräumten Coffee Art Bar im TIETZ wird um diese
Zeit unverhohlen gedealt, aber zu dieser Wahrheit gehört die Tatsache,
dass die Kunden offensichtlich ethnische Deutsche sind. Drinnen
schirmt eine ganze Wachschutzgruppe den Lichthof und die Eingänge
ab. Im Vortragssaal des ehemaligen Kaufhauses wird gleich Peter
Sloterdijk (hier mit VHS-Leiterin Grit Bochmann) auftreten. Auch
hier ist man ausverkauft ohne Eintritt - wie zu gleicher Zeit bei
Egon Krenz und Siegfried Lorenz im "Rothaus", wo nur zwei freundliche
Herren den Einlass betreuten.
Man fürchtet
fast, dass man nun philosophische Traktate aus alten Tagen zu hören
bekommt, aber es wird alles ganz anders. Sloterdijk hat hier einen
Nachholtermin in der Reihe "100 Jahre Volkshochschule Chemnitz",
und er beginnt deshalb mit Carl Einstein: "Zu spät kommt man immer
rechtzeitig." Das darf wohl auch als Anspielung im größeren Maßstab
gemeint gewesen sein.
Sloterdijk liest
Kurzes und erzählt Anekdoten, er parliert, vieles stammt wohl aus
seiner Buchreihe "Neue Zeilen und Tage", die beim Suhrkamp Verlag
läuft. Das ist eine der Merkwürdigkeiten, denn der Karlsruher gilt
inzwischen als einer der "typischen alten weißen Männer". Und es
kommen auch ein Anekdoten, die man bei der richtigen Haltung mühelos
als rassistisch oder sexistisch einstufen könnte, wenn es denn sein
müsste. Doch was soll er machen? Sich ein Ohr abschneiden? Und was
soll ein Verlag wie Suhrkamp machen, die schon dem weißen Mann Tellkamp
die Abmahnung per Twitter übermittelt haben, wo aber nun doch die
Fortsetzung vom "Turm" erscheinen soll. Vielleicht funktioniert
auch das Geschäft mit politisch korrekten Autoren nicht ganz so
gut.
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Peter
Sloterdijk - hier mit VHS-Leiterin Grit Bochmann - trat am 18.11.19
im Chemnitzer TIETZ auf. Fotos (2): Kreißig |
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Sloterdijk,
der alt und etwas müde wirkt und dem Foto auf der eigenen Webseite
nicht mehr ganz standhalten kann, gibt sich alle Mühe, sein Publikum
bestmöglichst zu unterhalten. Er erinnert ein wenig an Hellmuth
Karasek, der nach seinem Rauswurf beim SPIEGEL über die Lande zog
und sein Publikum zum Lachen brachte: mit Witzen, Erlebten, eigenen
Gedanken und Schnurren. Manche Anekdote von Sloterdijk ist freilich
überzogen, wie jene von Richard Branson, dem Gründer von Virgin
Airways, die nur in die "Flug Revue" oder "Aero International" passt,
aber nicht in diese Runde, wo den Gag niemand verstehen kann. Der
Vollständigkeit halber: Der durchaus immer noch vermögende Branson
wird gefragt, wie man am schnellsten Millionär wird: "Das ist sehr
einfach. Man wird Milliardär und gründet dann eine Fluglinie."
Die Legende
will seine Worte in den "Sonntagsanzug der Sprache" kleiden, erzählt
ein paar schöne Zeilen aus Franz Werfels "Stern der Ungeborenen",
einem vergessenen Science-Fiction-Roman. Dann erläutert er, dass
den Buchtitel "Zeilen und Tage" von Hesiods "Werke und Tage" entlehnt
habe - unter dem macht es ein Sloterdijk nicht. Der Merkel-kritische
Gigant ("Als Staatsbürger bin ich konservativer als in meiner Rolle
als Philosoph. Ich habe das Recht, Angela Merkel zu kritisieren,
dass sie nach dieser außerordentlichen Situation des Herbstes 15
nicht klar gemacht hat, dass es sich hier um eine Ausnahmesituation
gehandelt hat von unwiederholbarem Charakter."), hatte auch andere
Tage: Als junger Mann reist er zum Bhagwan nach Poona, eine Sache,
über die er aus heutiger Perspektive kaum reden kann, wie er hinterher
leise bekennt. Es muss prägend gewesen sein.
Und dann kommt
er auf einem Umweg zur Sowjetunion. Sloterdijk datiert die wirkliche
"Oktoberrevolution" auf den 16.10.1846. Damals fand an der Harvard
University am Massachusetts General Hospital in Boston die erste
chirurgische Operation unter Vollnarkose statt. Die Oktoberrevolution
1917 in Petrograd sieht er als das, was sie war: ein Schwindel.
Damals hatten in Wirklichkeit ein paar Revolutionäre das Winterpalais
über einen Hintereingang eingenommen, die letzten Wachen leisteten
keinen Widerstand, und Ministerpräsident Kerenski war längst geflohen.
Dann erinnert er an Trotzkis Spinnereien, dass der neue kommunistische
Mensch im Durchschnitt das Niveau von Leonardo und Goethe erreichen
wird. Das Original von Trotzki lautet so ähnlich: "Der durchschnittliche
Menschentyp wird sich bis zum Niveau von Aristoteles, Goethe und
Marx erheben." Von dieser Entwicklung habe er allerdings nichts
mitbekommen. Den Weltveränderer Solschenizyn, den Stalin in den
GULAG steckte, den Chruschtschow förderte, den Breschnew auswies
und dem Putin schließlich ein Staatsbegräbnis gab, rahmt mit einem
Satz: "Er will nie sympathisch sein."
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Auch
ein Philosoph weiß einen Wein zu schätzen. |
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Jetzt als Emeritus
kann er über sich selbst lachen, in dem Land, wo Universitätsprofessoren
"ein- oder zweimal in der Woche die Sakramente spenden und sonst
unauffindbar" sind. In den Staaten, wohin er gleich nach seinem
Auftritt hinfliegen werden, laufe das etwas anders. Er hörte von
einer Geschichte, wo ein Student seinen Professor um Mitternacht
anrief, weil er ein Hegel-Zitat aus dem Seminar nicht gleich verstanden
habe und um sofortige Erklärung bat. Das politische "Orbán-Phänomen"
deutet er als Folge der Sondersprache der Ungarn, die es, freilich
in starken Abwandlungen, nur noch in Finnland, in Estland und im
Uralraum gibt.
Dann gibt er
einem Hauptwidersacher (der andere ist Jürgen Habermas) noch eine
Mitteilung aus der Ferne. Der Berliner Professor der Wissenschaft
Politologie Herfried Münkler wolle unbedingt einen persönlichen
Termin bei der Kanzlerin, was ähnliches jedenfalls. Aber man
solle lieber im Zustand der "leichten Ungnade" bleiben, so wie es
Flottenadmiral Tirpitz im Umgang mit Majestäten empfohlen habe.
Ja, es ist dieser Münkler, dem wir eine der großen Entdeckungen
der Politikwissenschaften verdanken: "Also, auch wenn der Satz,
glaube ich, nach wie vor gilt, nicht das Volk in seiner Gesamtheit,
aber es gibt große Teile des Volkes, die sind nicht besonders informiert,
geben sich auch keine Mühe, glauben aber dafür umso besser genau
zu wissen, was der Fall ist. Also: Sie sind dumm, wenn ich das mal
so zusammenfassen darf."
Irgendwann kommt
Sloterdijk noch zum "großen Geld": "Man wird erst durch das Geld
zu einem Menschen ohne Eigenschaften." Und er schließt mit
dem französischen König der Sentenzen. Er solle doch nun, hier auf
dem Sterbebett, auch den Teufel verfluchen, forderte der Priester
Talleyrand auf. Der aber entgegnete: "Es ist sicher keine gute Idee,
sich in dieser Situation neue Feinde zu machen."
Uwe Kreißig
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20/11/2019 Reconnaissance Interview Mag |
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