Das Rothaus
in der Chemnitzer Lohstraße ist überbucht, Eintritt wird nicht erhoben.
Doch bevor man überhaupt Zutritt zum Abend mit Egon Krenz und Siegfried
Lorenz erhält, muss man eine Stadionrunde um den eingezäunten Getreidemarkt
nehmen. Es geht pünktlich 18 Uhr los, das ist gut für die ganz kleine
Gruppe, die eine Stunde später den Auftritt von Peter Sloterdijk
in der Volkshochschule im TIETZ sehen will. Gegensätzlicher
geht es eigentlich nicht, und doch wird sich im Laufe des Abends
zeigen, dass ein Thema beide Referenten bearbeiten: die Sowjetunion.
Im Rothaus,
das innen stark einer Ferienlagerbaracke ähnelt, geht es in bewährter
Manier los: "Liebe Freunde, liebe Genossinnen und Genossen". Im
Anschluss kündigt Krenz seinen Freund Siegfried Lorenz an, der viele
Jahre Bezirksparteichef von Karl-Marx-Stadt war. Krenz liest aus
seinem neuen Buch "Wir und die Russen". Dabei deutet er, dass der
Titel auf einen Artikel von Rudolf Herrnstadt zurückgeht, den dieser
als Chefredakteur in der Parteizeitung "Neues Deutschland" am 19.
November 1948 unter der Überschrift "Über ›die Russen‹ und ›über
uns‹" veröffentlichte. Herrnstadt geriet 1953 auf die Abschussliste,
und wurde als "Trotzkist" kaltgestellt, weil er sich an der innerparteilichen
Opposition gegen Ulbricht beteiligt hatte, die die Protektion von
Lawrentij Berija genoss.
Krenz geht weit
zurück, um das Verhältnis der Sowjetunion zur DDR aus seiner Sicht
darzustellen. Bei der Stalin-Note von 1952 und dem Berija-Angebot
von 1953, Deutschland in eine frühzeitige Wiedervereinigung zu entlassen,
scheint er sich nicht ganz auf dem Forschungsstand zu befinden.
Er stützt sich hier wohl überwiegend auf die Erinnerungen des ehemaligen
DDR-Kulturministers und Fernsehchefs Hans Bentzien, deren Quellenlage
unklar ist, und auf die Erinnerungen des einstigen NKWD-Agenten
Pawel Sudoplatow. Letzterer war in blutigste Aktionen verwickelt
und musste nach Berijas Sturz selbst ins Gefängnis. In seinen Agentenmemoiren
wurden schon bald nach der Veröffentlichung Ungereimtheiten entdeckt,
zudem stört die Überheblichkeit, dass Sudoplatow die vielen Morde,
für die verantwortlich zeichnete, als Dienst für den "guten Zweck"
herausstellt.
Fakt ist, dass
es die Stalin-Note und Berijas Deutschland-Initiative gab, strittig
ist bis heute, wie ehrlich sie gemeint waren. "Wir brauchen eigentlich
nur ein friedliches Deutschland. Und es ist gleichgültig, ob dort
ein Sozialismus entsteht oder nicht", soll Berija in der entscheidenden
Sitzung zu Gromyko und Lew Besymenski gesagt haben. Dabei wurde
er zunächst auch von Chruschtschow unterstützt, der sich damals
im Hintergrund als neuer starker Mann aufbaute. Berija wollte im
Übrigen auch nicht die DDR an den Westen für 10 Milliarden Dollar
verkaufen, wie Krenz an diesem Abend sagt. Dieser Betrag sollte
bei einer deutschen Wiedervereinigung unter neutralem Status die
westliche Reparation für die Kriegsschäden in der Westsowjetunion
darstellen, eine durchaus berechtigte und plausible Forderung. Berija
ging beim ökonomischen Halten der DDR durch Rohstofflieferungen
und Kosten der Besatzungsarmee von mindestens 20 Milliarden Dollar
für die Sowjetunion aus. Dazu kam der Umstand, dass zu diesem Zeitpunkt
niemand in der Kreml-Elite noch bereit war, Ulbricht mit Lebensmittellieferungen
und weitere Unterstützungsmaßnahmen aus der Patsche zu helfen, zumal
man selbst nichts hatte. Schließlich brach die "Berija-Phase" schnell
zusammen, weil Teile des Politbüros unter Chruschtschow Angst hatten,
dass Berija ein zweiter Stalin wird, was für sie lebensgefährlich
geworden wäre. Im innerparteilichen Machtkampf beschloss eine Mehrheit
des Politbüros, Berija zu liquidieren, wofür es viele berechtigte
und auch vorgeschobene Gründe gab: Der "Verkauf der DDR an den Westen"
gehörte zu den Letzteren.
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Die "10-Milliarden-Legende"
hatte einen konkreten Hintergrund. Berija, der für lebenswichtige
Bereiche der Kriegswirtschaft verantwortlich gewesen war, und auch
das Atomprogramm der Sowjetunion bis zur Zündung der ersten Bombe
koordinierte, wusste um den katastrophalen Zustand der sowjetrussischen
Wirtschaft, wobei er sich keine Illusionen über die Ursachen machte.
Man brauchte Geld und neue Ideen. "Ohne Privateigentum kommt die
UdSSR nie auf einen grünen Zweig", äußerte er 1953 nach Stalins
Tod in einer Kreml-Runde, weil er in einem rein kommunistischen
Wirtschaftssystem keine Zukunft sah - so ähnlich wie Deng Xiaoping
drei Jahrzehnte später.
Breiten Raum
räumt Krenz der Abrechnung mit Michail Gorbatschow ein. Er könne
heute Leute verstehen, die den ehemaligen Sowjet-Chef als "Verräter"
betrachten. Und weiter: "Wir waren mit der Sowjetunion auf Gedeih
und mit Gorbatschow leider auch auf Verderb verbunden." Die zunehmenden
Probleme beim großen Bruder hätten auch die DDR mit hinabgezogen.
Zudem habe sich Gorbatschow mit zweifelhaften Gestalten wie Schewardnadse
und Alexander Jakowlew umgeben. Letzterer war die graue Eminenz
(wie vorher Suslow unter Breschnew) und hatte Glasnost und Perestroika
entworfen. Allerdings entwickelte das Trio Gorbatschow / Schewardnadse
/ Jakowlew diese Neuerungen nicht, um den Kommunismus und die Herrschaft
der KPdSU abzuschaffen, sondern um diese zu retten. Gorbatschow
hatte von seinen Vorgängern ein ökonomisch kaputtes Land übernommen,
auch Andropows harte Maßnahmen gegen das grassierende organisierte
Verbrechen liefen schon wieder ins Leere. Von Breschnew (der dem
militärischen Eingreifen krankheitsbedingt gar nicht zustimmt hatte)
übernahm er die tödliche Last das Afghanistan-Krieges. Der Ausstieg
aus diesem Konflikt war vielleicht Gorbatschows schlauste Tat: Er
überließ den Krieg jenen, die ihn in den siebziger Jahren angezettelt
hatten, als in Kabul die Kommunisten regierten (das kann man sich
heute kaum noch vorstellen): den US-Amerikanern, die mit Geheimdienstaktionen,
Waffenlieferungen und Milliarden von Dollar für "Aufständische"
unter dem Demokraten Jimmy Carter und danach unter Reagan den Konflikt
in die Wege geleitet und eskalieren ließen. 2001 kehrte der Afghanistan-Krieg
an seinem Planungsort zurück und veränderte die US-Innen- und Außenpolitik
bis heute.
Bei Krenz bleiben
diese Wahrheiten und Hintergründe für Gorbatschows innen- und außenpolitisches
Handeln ungesagt. Er formuliert es so: "Mit der Zerschlagung der
Sowjetunion wurde das Weltgleichgewicht zerstört." Fakt ist, dass
Bush und Kohl ihr Gorbatschow gegebenes "NATO-Versprechen" brachen
und diese bis an die Westgrenze Russlands ausdehnten, obwohl genau
das nicht geschehen sollte. In Deutschland werden Gorbatschows Taten
und Entscheidungen in der Regel milder und günstiger bewertet als
in Russland, wo man sich inzwischen lieber die "goldenen Jahre"
unter Breschnew in Erinnerung ruft. Aber selbst der scharfe Gorbatschow-Kritiker
Alexander Solschenizyn äußerte unverblümt lobend über den ungeliebten
Ex-Staatschef: "Allerdings muss man einräumen, dass es Gorbatschow
war und nicht Jelzin - wie allerorts behauptet wird -, der unseren
Bürgern zum ersten Mal die Meinungs- und Bewegungsfreiheit gab."
Leider ist nun
aus Zeitgründen der Wechsel der Lokalisation in der Chemnitzer Innenstadt
erforderlich. Als Reminiszenz für die DDR-Jahre nimmt man eine Botschaft
von Egon Krenz mit: "Es ist möglich, ohne Kapitalismus zu leben."
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